Die Kalkscheune in Berlin-Mitte entwickelt sich mehr und mehr zur gesetzten Adresse, wenn es um die Themen Stadtentwicklung, Bürgergesellschaft und Kommunikation unter der Flagge des vhw geht. Am 6. und 7. Juni 2013 war es wieder soweit, denn der 3. Kongress im Rahmen des vhw-Städtenetzwerks tagte dort unter dem Motto "Bürger und Politik in der Stadtgesellschaft – Ziemlich beste Freunde?" Den Hintergrund der Veranstaltung bildete die von vielen Seiten geteilte Einschätzung, dass sich das politische System und die Zivilgesellschaft schon seit längerem eindrucksvoll entfremdet haben. Auch auf der kommunalen Ebene sind die Bindungen in der repräsentativen Demokratie zwischen Repräsentanten und den Repräsentierten brüchiger, distanzierter, komplexer und daher vermittlungsintensiver geworden.
Die Beteiligungswünsche der Bürgerinnen und Bürger richten sich – worauf das Wissenschaftszentrum in Berlin hinweist – nicht nur auf Mitentscheidung und punktuelle Abstimmungen, sondern gerade auch auf aktive Teilnahme an Kommunikationsprozessen von unten, in denen Bedürfnisse, Interessen und gute Gründe verschiedenartiger sozialer Gruppen artikuliert werden können. In der aktuellen politikwissenschaftlichen Legitimitätsdiskussion werden mit dem Begriff der Legitimität ein stetes Ringen und damit ein stetiger Diskurs um Zustimmung und Rechtfertigung für das lokale Regieren verstanden. Mutige und offene Kommunalpolitiker haben die Veränderungsnotwendigkeit erkannt, die aktive Kommunikationsprozesse in der Stadtentwicklung "von unten" bedeuten. Sie machen mit beim "Wagnis" Städtenetzwerk, das im Diskurs über die Zukunft unserer Städte auf die Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger setzt. Der Kongress konnte vor diesem Hintergrund nicht nur auf die fachlichen Inputs der Referenten sondern insbesondere auch auf die vielfältigen Erfahrungen aus Teilnehmerstädten im Städtenetzwerk zählen. Die Moderation der Veranstaltung übernahm Gerald Meyer vom Rundfunk Berlin Brandenburg.
Nach der Begrüßung der Gäste durch den Verbandratsvorsitzenden des vhw, Dr. Peter Kurz wies Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen bis 2011, auf das hohe Gut der Demokratie in ihrem Grußwort hin, das alles andere als selbstverständlich sei: "Wir leben zwar in einem Land, in dem demokratische Strukturen und Verfahren selbstverständlich sind und von einer Mehrheit der Bevölkerung bejaht werden. Aber wir wissen, dass es damit nicht getan ist. Demokratie ist etwas Lebendiges. Menschen pflegen oder vernachlässigen sie, bringen sie zum Blühen oder zum Absterben. Und es sind die Städte und Kommunen, in denen sich die Anzeichen von beidem frühzeitig bemerkbar machen. Dort, wo Menschen aufwachsen, leben und arbeiten, ihre Kinder großziehen und alt werden, entsteht und regeneriert sich die Bürgergesellschaft, und wenn sie es hier nicht tut, tut sie es nirgendwo."
Zum Ende ihres Vortrags ging sie auf zentrale Fragestellungen des vhw zum Thema Inklusion ein. Sie fragte nach der Gefahr, dass diejenigen, die ihre Interessen laut artikulieren können und in der Lage sind, Kampagnen zu organisieren, die anderen überrollen. Wichtig sei außerdem, dass Beteiligungsrechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch von denen wahrgenommen werden können, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, die mit Behinderungen oder Krankheiten leben oder als vielfach belastete Eltern einfach keine Zeit haben: "Wenn Menschen unfreiwillig im Abseits stehen, haben wir es deshalb nicht nur mit einem sozialen Problem zu tun, sondern auch mit einem Problem der Demokratie."
In gewohnt humorvoller Art referierte Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert vom Wissenschaftszentrum Berlin zum Thema "Legitimität lokaler Politik – festgegründet oder zunehmend prekär?" und leitete damit die Diskussionsrunde mit den Stadtoberhäuptern von Kommunen im Städtenetzwerk ein. Er gab die Impulse über das Formulieren von Krisen – insbesondere der Krise der Demokratie. Dies drücke sich zum einen in der Krise der Repräsentativität (sichtbar etwa in den sinkenden Mitgliederzahlen der Parteien), in einer zunehmenden Verschiebung des Regierens von den Parlamenten hin zu Verfassungsgerichten, Zentralbanken, G7-Runden, Rating-Agenturen, globalen Unternehmen u. a. sowie in der Krise der Partizipation durch eine zunehmende soziale Selektivität in der Bevölkerung aus.
Prof. Dr. Jürgen Aring moderierte anschließend eine Runde mit Stadtpartnern aus dem Städtenetzwerk zur Legitimität von lokaler Politik. Zur Frage, ob die Legitimationskrise die Kommunen erreicht, unterstrich etwa Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim, an Beispielen seiner Stadt die zwiespältigen Einstellungen in der Bevölkerung zu verschiedenen Entscheidungsprozessen, zu Akzeptanz und Legitimation. Thomas Hunsteger-Petermann, Oberbürgermeister der Stadt Hamm, glaubt hingegen nicht, dass es eine Legitimationskrise auf kommunaler Ebene gebe. Vielmehr gelte es, private (auch völlig legitime) und öffentliche Interessen zu unterscheiden. Auch sei der kommunale Spielraum in Zeiten knapper Kassen sehr eingeschränkt. Dr. Martin Lenz, Bürgermeister der Stadt Karlsruhe, wagte die Einschätzung, dass sich die Kommunen schon mehr legitimieren müssten, weil die "Spielregeln" zunehmend hinterfragt würden. Am Beispiel der Unterbringung von Asylbewerbern im Stadtgebiet unterstrich er, dass etwa ein Legitimieren durch Fachlichkeit notwendig sei. Hilmar von Lojewski, Beigeordneter für Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr des Deutschen Städtetages, fragte am Beispiel der Stadt Aachen, welches "Design" Beteiligungsprozesse haben sollten. Dabei stünden u. a. die Gegenstände der Verfahren sowie die jeweilige Haltung der Verwaltung im Fokus der Betrachtung. Er unterstrich darüber hinaus auch die Wichtigkeit der gewählten Vertreter, deren Engagement unabdingbar für das Funktionieren einer repräsentativen Demokratie sei. Trotzdem sei etwa darüber hinaus das Thema Inklusion weiter zu verfolgen und zum Beispiel mit Methoden der Zufallsauswahl umzusetzen.
Der Nachmittag wurde eingeleitet durch Peter Rohland, Vorstand des vhw, der vor dem Hintergrund der Frage "Was leistet das Städtenetzwerk?" neue Beteiligungszugänge und ein geändertes Dialogverständnis einforderte. Den Handlungsbedarf in Sachen lokaler Demokratie unterstrich er u. a. durch aktuelle Zahlen der Wahlbeteiligung in Schleswig-Holstein. Das Städtenetzwerk strebe deshalb eine Verbreiterung der Partizipationsbasis durch eine Ausweitung von Inklusion an. Die gesellschaftlich besser gestellten Milieus seien überrepräsentiert, was zu sozialer Ungleichheit auch in Partizipationsfragen bei der Stadtentwicklung führe. Der derzeit im dritten Jahr befindliche Praxistest im Rahmen des Städtenetzwerks zeige erste und bereits evaluierte Ergebnisse, die die stadtgesellschaftlichen Inklusionsbestrebungen belegen.
Am späteren Nachmittag arbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses in drei parallelen Workshops zu Themen von "Gentrifikation und Aufwerten", "Bildung in der Stadtentwicklung" sowie "Migranten im Dialog". Im Workshop I "Gentrifikation und kreative Milieus" (mit Beispielen aus Kiel und Essen) wurde u. a. festgehalten, dass es nicht um einen Diskurs zu Gentrifikation und kreativer Klasse, sondern vielmehr um die Verräumlichung gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse gehe. Darüber hinaus gehe es im Kern um die Frage, wie viel Ungleichheit wir aushalten wollen und können. Wenn Kommunen Aufwertungsprozesse kontrollieren oder steuern wollten, seien kleinräumige Instrumente zur Analyse gesellschaftlicher Entwicklung notwendig.
Unterstützt wurde der Workshop I durch die Städtenetzwerkstädte Kiel und Essen. Margarete Meyer(Bild links) aus Kiel berichtet über Probleme und Lösungen bei der Aufwertung von Essen-Katernberg.
Im Workshop II "Lernlandschaft als Stadtentwicklung?" wurde eine bessere Positionierung und Standortentscheidung anhand dreier Punkte eingefordert: Globalisierung und Bildungsstandort, Räumliche Segregation so wie Zuwanderung und Wissensgesellschaft. Anhand von Praxisbeispielen aus Karlsruhe und Nürnberg wurde der Frage nachgegangen, ob und wie etwa Ganztagsschulen mit einem neuen Bildungsansatz, der über das reine "Lernen" hinausgeht, positiv auf das gesamte Stadtquartier ausstrahlen und etwa die Funktion eines "Magneten" annehmen könnten. Es wurde u. a. festgestellt, dass eine der Hauptaufgaben darin bestehe, die soziale Ebene mit der Bildung zusammenzubringen.
Workshop II wurde mit Unterstützung der Städtenetzwerkstadt Karlsruhe und einem Input von Sabine Süß (Bild rechts), stellvertretende Leiterin der Geschäftsstelle Stiftungsverbund LernenvorOrt, zu Bildung durchgeführt.
Der Workshop III "Migranten im Dialog" hatte die Einbeziehung und Beteiligung von Migranten in Stadtpolitik und Stadtentwicklung zum Thema. Anhand dreier Beispiele aus dem Städtenetzwerk (Hamburg, Hamm und Ludwigsburg) wurden die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen bei den Bemühungen um einen guten Dialog mit Migranten zusammengetragen. Zusammenfassend wurde festgestellt, dass es gelte, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und Wertschätzung zu vermitteln. Von entscheidender Bedeutung sei darüber hinaus der Nahbereich Lebenswelt der Migranten. Insbesondere niedrigschwellige Aktivitäten aus den Bereichen Bildung und Kultur böten einen guten Anknüpfungspunkt. Um Migranten zu mobilisieren böte sich außerdem an, Multiplikatoren und Institutionen vor Ort einzubinden. Als Anreiz für Engagement solle die Möglichkeit zum Mitentscheiden gegeben werden.
Die Städtenetzwerkstädte Hamm und Ludwigsburg lieferten wertvolle Inputs aus der kommunalen Realität zur verbesserten Inklusion dieser Bürgergruppe.
"Wir haben das seit Jahren hier aufgebaut. Wir sind der Weberkiez! Ihr könnt ja gerne nach Berlin zurückgehen mit euren ganzen Investitionen und so. Wir machen hier das wahre Leben, weil wir da sind!" (Max Röbel, Clubbesitzer)
Der zweite Tag der Veranstaltung stand ganz im Zeichen des soeben vom vhw veröffentlichten Handbuchs "Kommunikation mit Milieus in der Stadtgesellschaft". Die Kongressteilnehmer konnten sich aktiv in Rollenspielen Kommunikation aus bestimmten Perspektiven erproben. Durch die Übernahme einer Rolle im Konflikt sollten die Motive, Zwänge und Möglichkeiten der Akteure deutlich werden. Neue Perspektiven sollten sichtbar und Lösungsansätze sowie Verhandlungsstrategien ausprobiert werden. Somit konnte das Rollenspiel zur Nachnutzung des Geländes "Alte Weberei" in Großbürgerhausen nicht nur das Verständnis von planerischen Prozessen und sozialen Dynamiken befördern sondern auch auf individueller Ebene zu einer Verbesserung persönlicher Fähigkeiten, wie Kommunikation, Konfliktfähigkeit, strategisches Planen, Verhandlungsgeschick, Kompromissbereitschaft und Empathie führen. Dies alles allerdings in nur knapp 2 Stunden...
Sebastian Beck, wissenschaftlicherMitarbeiter vhw, stellte zum Abschluss der Veranstaltung ein typisches Fallbeispiel der Stadtentwicklung mit Kommunikationsansätzen aus dem Kommunikationshandbuch vor. Dabei knüpfte er unmittelbar an die Erfahrungen aus den vorher durchgeführten Rollenspielen an. Im Zentrum seines Beitrags stand der milieuorientierte Ansatz, der dem Handbuch zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang und mit Blick exemplarisch auf die Migrantenmilieus wies er auf sogenannte "zivilgesellschaftliche Grauzonen" hin, die es zu erreichen gelte. Auch die vermeintlich gemeinwohlorientierten Begründungszusammenhänge von sogenannten privilegierten Milieus gelte es, genau zu hinterfragen, verbergen sich dahinter oft doch durchaus eigenwohlorientierte Ansätze.
Zum Abschluss der Veranstaltung und als Ausblick unterstrich Peter Rohland, dass mit Hilfe des Kommunikationshandbuchs und daraus zu entwickelnder anderer Formate innerhalb des Städtenetzwerks nunmehr die Transformation der milieuorientierten Dialogprozesse in die Praxis auf der Agenda stehe. Ziel ist und bleibt für die kommenden Jahre über eine integrierte Stadtentwicklung auf die Stärkung lokaler Demokratie hinzuwirken. Die kommunale Ebene bleibe deshalb der Aktionsradius des vhw – auch für die weiteren Jahre innerhalb des Städtenetzwerks und auch weiterhin mit ziemlich besten Freunden aus Bürgern und Politik in der Stadtgesellschaft.