Der EuGH hat entschieden, dass ein früherer polnischer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder in Deutschland zusteht, nicht mit der Begründung, dass dieser Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, automatisch von nach dem nationalen Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen werden können.
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des Landessozialgerichts NRW LSG Essen hin (EuGH-Vorlage v. 14.02.2019 - L 19 AS 1104/18) hat der EuGH in seinem Urteil die Rechte, die einem früheren Wanderarbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern, die im Aufnahmemitgliedstaat zur Schule gehen, zustehen, im Licht der Verordnungen Nr. 492/2011 (ABl. 2011, L 141, 1) und Nr. 883/2004 (ABl. 2004 L 166, 1, berichtigt im ABl. 2004 L 200, 1) sowie der Richtlinie 2004/38 (ABl. 2004, L 158, 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, 35) präzisiert.
Die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit können nach Auffassung des EuGH als "soziale Vergünstigungen" i.S.d. Verordnung Nr. 492/2011 eingestuft werden. Diese Verordnung stehe einer nationalen Regelung entgegen, die es unter allen Umständen und automatisch ausschließe, dass ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder derartige Leistungen erhalten, obwohl sie nach Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder genießen.
Zur Begründung dieses Ergebnisses sei zunächst darauf hinzuweisen, dass das Aufenthaltsrecht, das Kindern eines Wanderarbeitnehmers oder früheren Wanderarbeitnehmers zuerkannt werde, um ihnen Zugang zum Unterricht zu gewährleisten, und aus dem das Aufenthaltsrecht des Elternteils abgeleitet sei, der die elterliche Sorge für sie wahrnehme, ursprünglich aus der Arbeitnehmereigenschaft dieses Elternteils folge. Sei dieses Recht einmal erworben, erwachse es jedoch zu einem eigenständigen Recht und könne über den Verlust der Arbeitnehmereigenschaft hinaus fortbestehen. Des Weiteren hat der EuGH entschieden, dass Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zustehe, auch das in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen genießen, und zwar selbst dann, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen könnten, aus der sie ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht hergeleitet haben. Diese Auslegung verhindere somit, dass eine Person, die beabsichtige, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, dem Risiko ausgesetzt sei, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil sie nicht die nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Sozialleistungen in Anspruch nehmen könne, die den Lebensunterhalt der Familie in diesem Mitgliedstaat sicherstellen würden.
Schließlich entschied der EuGH, dass sich der Aufnahmemitgliedstaat in einem Fall wie dem vorliegenden nicht auf die in Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38 vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe berufen könne. Diese Ausnahme erlaube es, bestimmten Kategorien von Personen, u.a. denjenigen, denen nach dieser Richtlinie ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im Aufnahmemitgliedstaat zustehe, die Gewährung von Sozialhilfeleistungen zu versagen, um zu verhindern, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaates unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Ausnahme sei jedoch eng auszulegen und könne nur auf Personen Anwendung finden, deren Aufenthaltsrecht ausschließlich auf dieser Richtlinie beruhe.
Im vorliegenden Fall stehe den Betroffenen zwar ein Aufenthaltsrecht aufgrund Art. 14 Abs. 4 Buchst. c der RL 2004/38 zu, weil sich der betreffende Elternteil auf Arbeitsuche befinde. Da sie sich auch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach der Verordnung Nr. 492/2011 berufen können, könne ihnen diese Ausnahme jedoch nicht entgegengehalten werden. Daher begründe eine nationale Regelung, die sie von jeglichem Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit ausschließe, eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der sozialen Vergünstigungen, die gegen diese Verordnung verstoße (Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 i.V.m. Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011).
Zudem hat der EuGH entschieden, dass einem Wanderarbeitnehmer oder früheren Wanderarbeitnehmer und dessen Kindern, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund der Verordnung Nr. 492/2011 genießen und in einem Sozialversicherungssystem im Aufnahmemitgliedstaat eingebunden seien, auch das Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zustehe. Ihnen jeglichen Anspruch auf die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit zu versagen, stelle daher eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern dar. Diese Ungleichbehandlung verstoße gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, da die in Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38 vorgesehene Ausnahme auf die Situation eines solchen Arbeitnehmers und seiner Kinder, die zur Schule gehen, aus denselben Gründen, die der EuGH im Zusammenhang mit der Verordnung Nr. 492/2011 dargelegt habe, keine Anwendung finden könne. Quelle/Weitere Informationen: Pressemitteilung des EuGH Nr. 126/2020 vom 6. Oktober 2020